Dr. Wünsch, Sie haben mit Ihrer Promotion am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften in München (iwb) den Grundstein für die technisch-wirtschaftliche Betrachtung des Themas „Virtuelle Inbetriebnahme“ gelegt. Mit Ihrer Erfahrung gelten Sie seither im In- und Ausland als Experte in den Bereichen Simulation und Automation. Welchen Stellenwert hat die virtuelle Inbetriebnahme (kurz: VIBN) in der heutigen Zeit?
Die virtuelle Inbetriebnahme birgt viele Potenziale, wie beispielsweise die virtuelle Absicherung komplexer mechatronischer Anlagen innerhalb der Produkt- oder Anlagenentwicklung – also bevor mit dem Bau der realen Anlage begonnen wird. Das spart viel Mühe bei der realen Inbetriebnahme, was sich natürlich in den Kosten widerspiegelt. Die VIBN von heute muss aber weiter „gedacht“ werden. Es reicht nicht mehr aus, den Absicherungsprozess mit Produktionsstart zu beenden. Ziel der virtuellen Anlagenentwicklung muss sein, das im Modell gebündelte Wissen weiterzuverwenden, sei es als Digitaler Zwilling für die Produktion, im Wartungs- und Servicebereich, als Software-Add on für den Endkunde oder zur Wiederverwendbarkeit von Modellen für nachfolgende Entwicklungsprojekte sowie Lessons Learned im Projektmanagement – als Basis entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
machineering entwickelt die Simulationssoftware „industrialPhysics“. Inwieweit kann diese Software für die virtuelle Inbetriebnahme eingesetzt werden?
IndustrialPhysics ist ein umfassendes Engineering Tool, mit dem sowohl komplexe Maschinenkomponenten als auch verkettete Anlagen virtuell abgebildet werden können. Durch den integrierten Physikkern, können das Maschinenverhalten und deren Prozesse realistisch visualisiert werden, und zwar so, wie sich die Maschinen auch in Realität bewegen würden. IPhysics fungiert dabei als Simulationsplattform, mit der die Bereiche Mechanik, Elektrik und Automatisierung von der ersten Minute an zusammenarbeiten können. Das ermöglicht bereits in frühen Entwicklungsphasen die Evaluierung von Designkonzepten, Testen und Optimieren von Steuerungscode sowie Planung der Robotik.
Welche Chancen und Risiken sehen Sie für Unternehmen durch Investitionen in die VIBN?
Wie anfangs erwähnt, haben Unternehmen unabhängig von der Unternehmensgröße einen enormen Mehrwert, wenn sie eine virtuelle Inbetriebnahme durchführen. Eine Feldstudie, die ich im Rahmen meiner Promotion zum Thema „Wirtschaftliche Betrachtung einer VIBN“ durchgeführt habe, hat ergeben, dass die Verkürzung der Inbetriebnahmezeit um bis zu 75%, die Verkürzung der Gesamtdurchlaufzeit um bis zu 15%, die Steigerung der Softwarequalität um bis zu 45% und letztendlich die Senkung der Kosten um bis zu 50% möglich sind. Solche Zahlen bestätigen auch unsere Kunden.
Ein Risiko einer VIBN sehe ich nicht. Es gibt aber einen Mehraufwand durch das Frontloading der Entwicklungsaktivitäten. Das bedeutet, eine Verlagerung der Aktivitäten von der realen Inbetriebnahme hin in die Entwicklungsphase. Dem gegenüber stehen aber Vorteile, wie z.B. das sofortige Überprüfen von Machbarkeiten. Das entspricht der allgemeinen Weisheit, dass Probleme weniger Kosten verursachen, je früher sie im Entwicklungsprozess erkannt werden.
Welche Voraussetzungen benötigt ein Unternehmen für eine erfolgreiche VIBN?
Im Grund genommen keine, außer den Willen, diese umzusetzen. Und das stellt derzeit in manchen Unternehmen eine große Herausforderung dar.
Meist müssen die Kollegen aus der Konstruktion die Simulationsmodelle erstellen – ein Mehraufwand, der sich nicht direkt auf ihre Arbeitsergebnisse positiv auswirkt, zumindest nicht im ersten Schritt. Den Nutzen haben in erster Linie ihre Kollegen aus der Inbetriebnahme – eine generelle Schwierigkeit bei der Nutzung neuer digitaler Technologien. Der Nutznießer ist nicht derselbe wie der, der die Arbeit im ersten Schritt verrichten muss. Dieses Dilemma ist derzeit nur durch eine intelligente Gestaltung der unternehmensinternen Schnittstellen und Bewertungssysteme aufzulösen. Denn, wenn alle an einem Strang ziehen, kann die VIBN ihr Potenzial voll entfalten und der Anfangsinvest kann sich bereits mit der Umsetzung der ersten Maschine amortisieren; das heißt, die Kosten sind in Unternehmen nicht das Problem.
Derzeit gibt es aber noch eine weitere Herausforderung. Unsere Erfahrung hat gezeigt, das Unternehmen, die eine VIBN in ihrem Prozess als Standard integrieren wollen, mit einer zurzeit schwierigen Personalsituation zu kämpfen haben. Denn für eine optimale Umsetzung der VIBN muss der „Simulationsprozess“ im Unternehmen gelebt und dafür Ressourcen aufgebaut werden. Aufgrund der derzeit guten Auftragsbücher und Mangel an Arbeitskräften, fehlt es an Personal. Mein Tipp an dieser Stelle: klein anfangen.
Wo sehen Sie eventuelle Optimierungsmöglichkeiten innerhalb der VIBN?
Um die Durchgängigkeit einer VIBN im Unternehmen sicherzustellen, muss die Entwicklung wie sie heute in den meisten Unternehmen zu finden ist, neu organisiert werden. Derzeit arbeiten die Abteilung Mechanik, Elektrik und Automatisierung sequenziell und meist ohne sich untereinander ausreichend abzustimmen. Erst in der Inbetriebnahme treffen alle Arbeitspakete zusammen und Probleme werden sichtbar, die schwer zeitnah zu beheben sind.
Ziel der Entwicklung muss sein, dass die Entwicklungsbereiche von der ersten Minute gemeinsam an einem Projekt arbeiten und jeden noch so kleinen Entwicklungsschritt in Betrieb nehmen, d.h. auf Machbarkeit überprüfen, das sogenannte Continuous Commissioning. IndustrialPhysics ist dabei eine Simulationsplattform, auf der alle Ergebnisse zusammenlaufen, jeder Bereich aber weiterhin in der jeweiligen nativen Umgebung weiterarbeitet.
Um künftig eine VIBN optimal durchzuführen zu können, braucht es dringend ein neues Berufsbild – den Mechatroniker, der idealerweise alle Kompetenzen aus Mechanik, Elektrik und Automatisierung in einer Person vereint.
In welchen Märkten sehen Sie den größten Bedarf an VIBN?
In allen Unternehmen mit einem hohen Grad an Automatisierung gibt es ein enormes Potenzial durch VIBN. Man beachte nur, was der Stillstand einer Maschine kostet – egal, ob in der realen Inbetriebnahme, in Produktion, bei Ausfall oder Umrüstungen.
Ihre Prognose, wie sich die VIBN in den Märkten des Maschinenbaus und der Automatisierungstechnik entwickeln wird?
Die VIBN wird über die nächsten Jahre zum Standard werden und in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein.
Vielen Dank für das interessante Gespräch.